
Masaoka Shiki (1867–1902) hat in nur 34 Lebensjahren geschafft, was Generationen vor ihm nicht wagten: Er holte das Haiku aus der Vergangenheit und führte es ins moderne Japan. Mit über 20.000 Gedichten hinterließ er ein gewaltiges Werk. Dem zum Trotze war sein Leben geprägt von Krankheit, Schmerz und einer radikalen Liebe zur Wahrheit in der Poesie.
Geboren in eine verarmte Samurai-Familie, verlor er früh den Vater. Schon als Schüler war er rebellisch, politisch interessiert. Vor allem aber war er ehrgeizig genug, sich mit 16 auf eigene Faust nach Tokio durchzuschlagen. Dort traf er nicht nur auf den später berühmten Schriftsteller Natsume Soseki (1867–1916), sondern begann auch, das Haiku neu zu denken: nicht mehr verträumt und spielerisch, sondern klar, realistisch, und dennoch weiterhin naturverbunden.
Shiki war überzeugt davon, Haiku ist Literatur. Punkt. Keine Spielerei, kein Relikt. Als Haikuist forderte er Reformen, kritisierte die alten Meister, schrieb Essays, Tagebücher und wurde zur Stimme einer neuen Dichtung. Dabei war er schwer krank. Tuberkulose zwang ihn schon mit 30 ins Bett. In seinen letzten Jahren schrieb er unter Morphium aus dem Krankenlager weiter. Immer mit dabei, sein messerscharfer Blick auf das Leben, das Sterben und den Alltag.
Herbstregen –
die kranken Augen frieren
am Morgenfenster.
Das Werk
Dass wir Haiku heute als ernstzunehmende Form betrachten, verdanken wir ihm. Shiki war eben nicht nur ein Dichter, er war ein Umstürzler im Kimono, ein realistischer Romantiker, ein moderner Klassiker.
Frostmond –
über einem kahlen Baum
ein einzelner Stern
Seine Farben sind scharf gezeichnet, klare Linien, schwarz und weiß, ohne den weichen Dunst von Bashos Welt. Er brachte das Haiku in die Moderne, machte es fassbarer.
Diese Dreizeiler sind gnadenlos direkt, oft mit einer fast dokumentarischen Präzision. Shiki spart sich jede Sentimentalität – es bleibt nur das, was ist: Kälte, Tod, Einsamkeit, ein paar letzte Reste des Lebens.
der kleine Tintenfisch
zwischen Blüten gestorben –
welch Ehre!
Er hauchte wohl auf einem blütenverzierten Teller aus. Extrem frisch, wie es sich für japanisches Essen gehört. Shiki spottet darüber. Lies auch ↬ Haiku zum Fürchten // 10 harte und kalte Dreizeiler von Shiki
Und doch bleibt auch in seinen Versen das Staunen über die Welt. Eine Eichel, die auf den Boden fällt, ein Vogel, der in den Himmel steigt …

Oben: Porträt (KI) nach einem Originalfoto von 1900. Die Farbe Orange würde zu Shiki passen, da er ein großer Liebhaber der Kakifrucht war
Herbstmond –
dem Fuji zugewandt
ein einzelner Vogel
Viele von Shikis Haiku sind hart, minimalistisch und oft mit einem Hauch von Trostlosigkeit durchzogen. Sie handeln von Stille, Kälte, Verfall und einer fast dokumentarischen Schärfe in der Wahrnehmung der Umgebung. Sie können einem fast wehtun.
Sargnägel einschlagen –
ihr Echo hallt nach
in der Kälte der Nacht
Links
- Wikipediaeintrag
- Ausgewählte Haiku übersetzt von Thomas Hemstege (PDF)
- Shiki und der Kleine Kuckuck (PDF)
Werkstattbericht
Die Fotos und Zeichnungn wurden von ChatGPT generiert.
Wie ich übersetze
Die Übersetzungen stammen von Lenny Löwenstern. Jede Zeile wurde sorgsam bearbeitet – nicht automatisch, sondern mit modernen Werkzeugen. Ziel war, das Wesen der japanischen Originale zu bewahren – in einer Sprache, die heute berührt.