
Wenn im Frühling die Natur die Welt neu erfindet, ist zumindest in Japan das Haiku nicht weit. Das galt insbesondere in alten Zeiten, in denen sich mit dem Frühling unzählige Hoffnungen verknüpfen und die Erleichterung über das Ende des Winter sich Bahn brach. Das spürt man noch heute in den Zeilen der alten Meister, deren Verse so frisch wirken wie eh und je. Hier habe ich 20 Haiku bekannter japanischer Dichter zusammengetragen und übersetzt.
harukaze ya nomichi ni tsuzuku asagi-gasa
Frühlingsbrise –
auf dem Feldweg defilieren
blassblaue Schirme.
Kobayashi Issa, 1826
yami no ka wo teoreba shiroshi ume no hana
Der Duft der Dunkelheit,
pflückt man ihn, ist er weiß –
Pflaumenblüten.
Yokoi Yayu (1702–1783)
Yayu stammte aus einer Samurai-Familie und diente als Offizier, bevor er sich der Literatur zuwandte. Sein Werk aus über 2.000 Haiku zeichnet sich durch eine spielerische und zugleich tiefgründige Auseinandersetzung mit traditionellen Themen und Formen aus.
yuku haru ya / tori naki uo no / me wa namida
Der Frühling schwindet –
Vögel kreischen, in den Augen
der Fische Tränen.
Matsuo Basho
Eines von Bashos bekanntesten Haiku. Der Frühling vergeht, eine Zeit des Erwachens und der Schönheit schwindet damit. Der Vogel ruft energisch, vielleicht klagend, während der Fisch mit tränenähnlichen Augen schweigt. Die Tränen des Fisches sind nicht wirklich Trauer, sondern ein poetisches Bild für Wehmut. Was Basho hier vermitteln wollte ist der scharfe Kontrast zwischen laut und still, Himmel und Wasser, Bewegung und Starre – vor allem aber das unausweichliche Vergehen der Zeit.
緋の蕪や膳のまはりも春けしき
Rote Rüben –
selbst das Geschirr
ist in Frühlingsstimmung.
Masaoka Shiki

得ならぬは春の錦の匂ひ哉
Nicht zu fassen –
der Duft des Frühlings
im bunten Gewand.
Masaoka Shiki
ume ochi kochi minami subeku kita subeku
Überall Pflaumenblüten –
soll ich nach Süden?
Oder nach Norden?
Taneda Santoka
nagaki hi ivo saezuri taranu hibari hana
Den langen Tag
zwitschert die Lerche –
nie ist er lang genug.
Matsuo Basho
Siehe auch: 20 zeitlose Blumen- und Blüten-Haiku von Matsuo Basho
kageboshi mo mame sokusai de kesa no haru
Sogar mein Schatten
wirkt munter und gesund
am Frühlingsmorgen!
Kobayashi Issa
ume sakedo uguisu nakedo hitori kana
die Pflaumen blühen,
doch die Nachtigall schweigt –
ich bin allein.
Kobayashi Issa, 1803

ume orite shiwade ni kakotsu kaori kana
Pflaumenblüte –
faltige Hände halten
ihren zarten Duft.
Yosa Buson
urazumi ya goshaku no sora mo haru no chô
Hinterhaus –
selbst im schmalsten Himmel
ein Frühlingsfalter.
Kobayashi Issa, 1813
春の水岩ヲ抱イテ流レケリ
Das Frühlingswasser
strömt und
umarmt den Fels.
Natsume Soseki
Natsume Soseki (1867–1916) ist einer der bedeutendsten Schriftsteller Japans und gilt als einer der Väter der modernen japanischen Literatur. Seine Werke, die tiefgründige Einblicke in die japanische Gesellschaft und die menschliche Natur bieten, haben einen bleibenden Einfluss auf die japanische Literatur und Kultur hinterlassen. Natsume Soseki hinterließ ein bedeutendes literarisches Erbe, das weit über seine Lebenszeit hinausreicht. Seine Werke sind bis heute Pflichtlektüre in japanischen Schulen.
菜の花の中に小川のうねりかな
Rapsblütenfeld –
mittendrin kräuselt sich ein
kleiner Bachlauf.
Soseki Natsume
yuki tokete mura ippai no kodomo kana
Tauwetter –
und das Dorf quillt über
vor Kindern.
Kobayashi Issa
hatsu-zakura orishimo kyo wa yoki hi nari
Die ersten Kirschblüten –
zufällig heute,
so ein schöner Tag!
Matsuo Basho

yo no hana wo maru tsutsumu ya oboro-zuki
Die Blume der Nacht –
der Schleiermond umhüllt sie
mit seinem Licht.
Chiyo-ni
Der Schleiermond beschreibt einen Mond, der von Nebel oder Dunst umgeben ist, typisch für den Frühling. Nebel oder Dunstmond wären andere treffende Bezeichnungen dafür.
ureshii tayori mo kanashii tayori mo haru no yuki furu
Glückliche Nachricht,
traurige Nachricht –
der Frühlingsschnee fällt.
Taneda Santoka
asakawa no nishishi higashi su wakaba kana
Am seichten Fluss –
im Osten, im Westen,
überall junge Blätter!
Yosa Buson
春の夜の夢をさますや白拍子
Ein Traum verblasst
in der Frühlingsnacht –
die Tänzerin schweigt.
Masaoka Shiki
Das Gedicht beschwört die Stimmung einer Frühlingsnacht herauf, in der jemand aus einem Traum aufschreckt. Geweckt wurde er von einer Shirabyoshi, einer Tänzerin, deren Auftritt oft von Musik und Gesang begleitet wurde. Die Shirabyoshi bringt mit ihrem Tanz eine plötzliche Realität, die den Träumenden aus seiner Welt reißt.
yukuharuya shunjuntoshite osozakura
Schwindender Frühling,
noch zögert er –
die letzten Kirschblüten.
Yosa Buson, 1782
Werkstattbericht
Die Grafiken wurden von DALL-E und dem Microsoft Designer via Bing generiert.
Wie ich übersetze
Die Übersetzungen stammen von Lenny Löwenstern. Jede Zeile wurde sorgsam bearbeitet – nicht automatisch, sondern mit modernen Werkzeugen. Ziel war, das Wesen der japanischen Originale zu bewahren – in einer Sprache, die heute berührt.