Haiku aus den Vergnügungsvierteln – Poesie zwischen Sex und Sake im alten Japan

Haiku aus den Vergnügungsvierteln – Poesie zwischen Sex und Sake im alten Japan

Im Japan der Edo-Zeit gab es Orte, die wie eine zweite Welt wirkten. Es waren abgeschlossene Viertel, in denen Kunst, Lust, Mode und Geschäft ineinanderflossen. In Edo war es das berühmte Yoshiwara, in Kyoto das traditionsreiche Shimabara, in Osaka Shinmachi. Selbst viele Provinzstädte hatten eigene, kleinere yūkaku, die lizenzierten Vergnügungsviertel.

Wer diese Welt betrat, ließ das Alltagsleben hinter sich. Hinter den hohen Mauern und Toren lag ein Ort mit eigenen Gesetzen. Bei Nacht leuchteten Reihen von Öllampen, Laternen spiegelten sich im nassen Pflaster, Musik und Gelächter mischten sich mit dem Duft von Räucherwerk, frisch gekämmtem Haar und warmem Sake. Schon am Eingang hatte man das Gefühl, eine Bühne zu betreten. Und die Frauen, die darin auftraten, waren die Hauptdarstellerinnen.

Mehr als das Morgenlicht
duftet die Kurtisane –
Schwertlilien.

Ikenishi Gonsui (1650-1722)

Die Welt der Yūjo

Die Frauen, die hier arbeiteten, nannte man Yūjo – „Frauen des Vergnügens“. Sie waren registriert, standen unter Aufsicht und lebten zwischen öffentlichem Glanz und privater Unfreiheit. Manche empfingen einfache Gäste in kleinen Zimmern, andere verkehrten mit reichen Kaufleuten oder Samurai in prächtigen Salons.

Manchmal wirkte das Leben ganz unspektakulär, fast alltäglich:

Pflaumenblüte –
im Lusthaus wählen Dirnen
frische Seidenbänder aus.

Yosa Buson (1716–1784)

Dann wiederum war es gnadenlos und unerbittlich.

Morgendämmerung –
die Dirne spuckt Blut,
der Kuckuck ruft.

Shōha (1721–1781)

Auch wir kennen den Kuckuck (Cuculus canorus), und für die meisten Menschen ist er ebenfalls in erster Linie eine Stimme, kein Anblick. Im Japanischen steht der Kuckuck für Vergänglichkeit, Abschied und Tod.

Keisei und Oiran

An der Spitze dieser Welt standen die Keisei, die höchste Stufe der Kurtisanen. Der Name stammte aus China und bedeutete „die eine Stadt zu Fall bringt“. In Edo bezeichnete er Frauen von außergewöhnlicher Schönheit, Bildung und gesellschaftlichem Einfluss. Sie führten Gespräche über Literatur und Politik, beherrschten Musik, Tanz und Dichtung. Der Weg zu ihnen war teuer und lang. Körperliche Nähe gab es erst nach einem genau inszenierten Ablauf aus mehrmaligen Besuchen, Tee, Gesprächen und Geschenken.

Noch ein Stück weiter im Rampenlicht standen die Oiran. Sie waren hochrangige Keisei, die das Bild des Yoshiwara prägten. Ihr Auftritt war eine Inszenierung: begleitet von Dienerinnen und Lehrmädchen schritten sie langsam die Hauptstraße hinab, die schweren Kimonos in auffälligen Farben und Mustern, das Haar kunstvoll geschmückt. Gäste wählten sie nicht, sie wählten ihre Gäste. Wer von einer Oiran empfangen wurde, hatte nicht nur Geld, sondern auch Ansehen.

Wo die Kurtisane
ihre Kleider lüftet …
quaken die Frösche.

Ōshima Ryōta (1718-1787)

Natürlich sind wir es, die bei der Vorstellung der schönen Kurtisane und ihrer prächtigen Kleider ins Schwärmen geraten! Die Frösche sind die perfekten stellvertretenden Voyeure. Sie dürfen laut quaken, was wir nur denken.

Das Kurtisanenlied –
wie traurig es klingt,
am Ende des Herbstes.

Takarai Kikaku (1661–1707)

Geishas

Und dann gab es die Geisha. Ursprünglich waren sie Männer, die als Musiker und Unterhalter zwischen den Terminen der Kurtisanen auftraten. Im späten 18. Jahrhundert traten Frauen an ihre Stelle und machten aus der Rolle ein eigenes Berufsbild. Geisha waren Künstlerinnen – sie sangen, tanzten, spielten Shamisen, führten gewandte Gespräche. Offiziell boten sie keine sexuellen Dienste an, was sie deutlich von den Yūjo unterschied, auch wenn sich die Welten in den Vierteln oft überschnitten. Ihre Aufgabe war es, einen Abend zu einem unvergesslichen Erlebnis zu machen – ohne den letzten Schritt zu gehen.

Der Kurtisane Sommerbrief,
wie rührend –
in der vergänglichen Herberge.

Takarai Kikaku (1661–1707)

Im Zen und in der buddhistischen Dichtung bedeutet die abschliessende Wendung »Haus dieses Lebens«, also unser vergängliches Dasein, was schön kontrastiert zu dem Haus, in dem die Dame tätig ist.

Haiku aus den Vergnügungsvierteln – Poesie zwischen Sex und Sake im alten Japan

Ein Abend im Viertel

Ein Abend in einem Vergnügungsviertel begann oft im Teehaus. Dort empfing man die Gäste mit Sake, Speisen und leichter Unterhaltung. Dann erschien die Frau, die man ausgewählt hatte. Vielleicht eine einfache Yūjo, vielleicht eine Keisei, und setzte sich zu einem. Man sprach, lachte, trank, zitierte Gedichte.

Hinter den Seidenkimonos und den Parfüms standen harte Realitäten: Schulden, strenge Regeln, Krankheiten, fehlende Freiheit. Doch es gab Frauen, die sich freikauften, Teehäuser führten oder in anderen Künsten Karriere machten.

Mahlzeit,
die Dirne lässt sich entschuldigen –
Nattō-Suppe.

Tan Taigi (1709–1771)

Suppe mit Nattō (fermentierte Sojabohnen), ein kräftiges, deftig-rustikales Gericht, oft bäuerlich konnotiert. Pause ist Pause. Taigi zeigt hier mit lakonischem Humor, wer in diesem Moment wirklich die Kontrolle hat.

Erste Wildgans –
sich von einer Dirne
einfetten lassen.

Tan Taigi (1709–1771)

Taigi lebte als Mönch in Kyōto und lehrte im Vergnügungsviertel Shimabara die Kunst des Haiku.

Stimmen aus der schwebenden Welt

Besonders kostbar sind die Haiku, die von den Frauen selbst überliefert sind. In der Tamamoshū (玉藻集), einer Sammlung von Haikai-Gedichten aus den Vergnügungsvierteln, finden sich ihre eigenen Worte:

Selbst das Wildschwein
lässt sich vom Buschklee umarmen
in der Nacht!

Yūjo Takao

Gemeint ist: Auch ein grober Klotz begibt sich gern einmal in zarte Arme.

Sterb’ ich vor Liebe –
ruf an meinem Grab,
Kuckuck.

Von einer Prostituierten in der Genroku-Zeit geschrieben.

Hier sprechen nicht Außenstehende über das Leben im Viertel, hier äußerstn sich die Frauen selbst. Ihre Gedichte zeigen eine andere Perspektive: melancholisch, manchmal bitter, aber auch voller poetischer Kraft.

Die lizenzierten Viertel der Edo-Zeit waren Spiegel und Bühne zugleich. Hier trafen Inszenierung und Wahrheit in einem Augenblick aufeinander. Und dieser Augenblick konnte, wenn er Glück hatte, in einem Haiku unsterblich werden.

Haiku aus den Vergnügungsvierteln im alten Japan

Die Grafiken wurden von DALL-E und dem Microsoft Designer via Bing generiert.

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Übersetzerhinweis

Wie ich übersetze

Die Übersetzungen stammen von Lenny Löwenstern. Jede Zeile wurde sorgsam bearbeitet – nicht automatisch, sondern mit modernen Werkzeugen. Ziel war, das Wesen der japanischen Originale zu bewahren – in einer Sprache, die heute berührt.

Nozawa Bonchō (1640 – 1714) – Ein unangepasster Schüler Bashōs

Nozawa Bonchō (1640 - 1714) – Ein unangepasster Schüler Bashōs

So könnte er ausgesehen haben … Bonchōs Züge sind nicht überliefert. Es gibt keine Portraits oder Zeichungen des Dichters, auf denen sein Äußeres erkennbar wäre.

Matsuo Bashō ist heute der bekannteste Name der klassischen Haikudichtung. Doch um ihn herum entstand ein Kreis von Dichtern, die seine Ideen mittrugen, kommentierten – und zum Teil auf ihre Weise erweiterten. Einer der markantesten unter ihnen war Nozawa Bonchō. Kein folgsamer Schüler, sondern ein selbstbewusster Mitgestalter. Seine Dichtung steht für eine klare, unprätentiöse Form der Beobachtung, die auch heute noch überzeugt.

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Hakō, eine Dichterin aus dem alten Japan

Hakō, eine Dichterin aus dem alten Japan

So hätte sie aussehen können – die Frau, die eine rote Feder hielt. Einige Verse sind erhalten. Ihr Gesicht nicht. Doch dieser Ausdruck kommt ihr vielleicht nahe: wach, diszipliniert, aber nicht gebändigt, achte aufs Haar …


Die rote Feder: Poesie einer unbeirrbaren Frau

In einer Zeit, in der das Dichten den Männern gehörte und die Regeln festgezurrt waren, schrieb sie sich mit roter Feder in die Literaturgeschichte: Hakō (羽紅) war eine der wenigen namentlich bekannten Dichterinnen der Edo-Zeit. Ihr Name – ein Bild aus „Feder“ (羽) und „Karmesinrot“ (紅) – war nicht nur ein Pseudonym. Er war Programm.

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Yokoi Yayu (1702-1783) – Der Samurai unter den Haiku-Dichtern

Yokoi Yayu in fortgeschrittenem Alter, dargestellt mit Schreibutensilien.

Yokoi Yayu in fortgeschrittenem Alter, dargestellt mit Schreibutensilien. KI generiert nach einer alten Zeichnung (sie ist weiter unten zu sehen)

Yokoi Yayu (1702–1783) – der Samurai, der Haiku liebte

Wenn man an klassische Haiku denkt, tauchen sofort die großen Namen auf: Bashō, Buson, Issa. Doch es gibt auch andere Meister, die sich mit feinem Witz und Ernst einen Platz in der Geschichte erdichtet haben. Sie sind nicht minder großartig – einer von ihnen ist Yokoi Yayu.

Geboren 1702 in Nagoya, mitten in der goldenen Mitte der Edo-Zeit, wuchs Yayu als Sohn einer angesehenen Samurai-Familie auf. Der Vater war Beamter im Dienste des Owari-Klans, einer mächtigen Tokugawa-Seitenlinie. Pflichtbewusstsein war also Pflichtprogramm. Und Yayu? Er machte mit – aber auf eigene Art.

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Oku no Hosomichi – Der schmale Pfad ins Hinterland von Matsuo Basho – Reiseabschnitte 1-12

Oku no Hosomichi // Der schmale Pfad ins Hinterland von Matsuo Basho

Dieses Reisetagebuch wurde 1689 von dem berühmten Haikudichter Matsuo Basho verfasst. Die beschwerliche Reise unternahm er am Ende seines Lebens.

Oku no Hosomichi ist ein Text, der Natur und Landschaft nicht unbedingt realistisch zeigt. Der alte Stil ist leicht, assoziativ, unvollständig, geprägt von Schweigen, Andeutungen und Brüchen. Wichtiger als geografische Genauigkeit ist die persönliche Stimmung der Reisenden.

Erzählerisch schlicht, schreibt Basho hier nicht auf dem literarischen Niveau moderner Erzähler, das musste erst noch erfunden werden. Er berichtet in lockerer, poetischer Form. Zentrale Elemente sind, wie könnte es anders sein, seine eingestreuten Originalhaiku. Allein ihretwegen lohnt die Lektüre. Hier sind sie sozusagen in ihrem natürlichen Umfeld zu sehen.

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