Mukai Kyorai (1651-1704) – Haiku-Dichter aus der Hütte der fallenden Kaki

Mukai Kyorai (1651-1704) – Haiku-Dichter aus der Hütte der fallenden Kaki

Oben: KI Porträt von Kyorai nach einer Zeichnung von Yokoi Kinkoku (1761–1832)

Es ist eine stille Ecke im Westen von Kyōto. Dort, wo sich die Bambushaine von Sagano in den Hang schmiegen und das Licht durch das Blattwerk flimmert, steht eine unscheinbare Hütte. Ihre Mauern sind aus Lehm, das Dach gedeckt mit Stroh. Vor der Tür – ein Kakibaum, dessen Früchte im Herbst in leuchtendem Orange reifen. Sie fallen, wie der Name der Hütte sagt, zu Boden.

Rakushisha (落柿舎), die „Hütte der fallenden Kaki“. Der Name entstand, als alle Kaki-Früchte, die Kyorai verkaufen wollte, über Nacht durch einen Taifun herunterfielen. Hier lebte er als einer der engsten Schüler von Matsuo Bashō, dem großen Meister des Haiku.

柿ぬしや梢はちかきあらし山
kaki nushi ya / kozue wa chikaki / Arashiyama

Herr der Kakis –
nah sind die Wipfel
des Arashiyama.

Dieses Haiku ist ein Selbstporträt in Kyorais typischem lakonischen Ton. Ja, er meint sich selbst. Der Vers verbindet persönliche Identität mit der landschaftlichen Umgebung, fast wie ein literarischer Adressstempel.

In dieser Hütte schrieb Bashō selbst, zu Gast bei seinem Freund, sein kleines Meisterwerk Saga Nikki. Und hier starb Kyorai, im Herbst 1704, im Alter von nur 54 Jahren.

そくさいの数にとはれむ嵯峨の柿
sokusai no / kazu ni towaremu / Saga no kaki

Fragt man nach dem Alter –
die Kakis von Saga
sind meine Antwort.

Geboren wurde er 1651 in Nagasaki, in der Provinz Hizen, als Sohn des konfuzianischen Arztes Mukai Genshō. Schon als Kind kam er nach Kyōto, wo er eine klassische Bildung erhielt: die Schriften der Konfuzianer, die strenge Disziplin der Kampfkünste. Sein älterer Bruder diente als Arzt am Kaiserhof – Kyorai selbst war eine Zeitlang im Haushalt eines Prinzen angestellt. Doch er verließ diese sichere Position früh und ohne Eile, einen neuen Dienstherren zu suchen. Die Welt der Poesie zog ihn mehr als die Karriere am Hof.

Kyōto in den frühen Morgenstunden: Über den Fluss Kamo liegt Nebel, der Duft von frisch geröstetem Tee mischt sich mit Rauch aus den Holzkohlenherden. Händler öffnen ihre Läden, Kinder in abgetragenen Baumwollkimonos laufen zum Unterricht in den Terakoya-Schulen. Die Hauptstadt ist noch schläfrig – nur in den Teehäusern der Dichterkreise glimmen schon die Dochte.

Es ist das Zeitalter Genroku, die 1680er Jahre – eine Blütezeit der Kunst. In Edo, Ōsaka und Kyōto entstehen neue Theaterformen, bunte Farbholzschnitte, und eine neue Gattung von Versen, das Haikai no renga, das später zu unserem Haiku werden sollte. Die Dichter verfeinern den Stil, den Bashō „shōfū“ nennt – eine Dichtung, die auf Wahrhaftigkeit und feine Wahrnehmung setzt, statt auf bloße Wortspiele.

朧月一足づゝもわかれかな
oborozuki / issoku zutsu mo / wakare kana

Nebelmond –
jeder Schritt
ein Abschied.

1687 begegnet Kyorai in Edo endlich dem Mann, dessen Name bald sein eigenes Schicksal bestimmen sollte: Matsuo Bashō. Die beiden verstehen sich – Kyorai, von sanfter Art und doch mit klarem Blick; Bashō, der Meister mit dem Wanderstab, stets unterwegs, aber immer auf der Suche nach jenen, die seine Dichtung weitertragen können. In Kyōto wird Kyorai zu Bashōs wichtigstem Schüler, zu seinem „Haikai-Magistrat der 33 westlichen Provinzen“, wie Bashō scherzhaft sagt.

Drei Poeten, das Original von Yokoi Kinkoku

Drei Poeten, das Original von Yokoi Kinkoku: Links die Frau in Kimono = Shiba Sonome. Mitte = Hattori Ransetsu. Rechts = Mukai Kyorai

Ein Treffen im Winter: Bashō sitzt in der Ecke der Hütte, eingehüllt in eine graue Reisstroh-Decke. Auf dem Kohlebecken zischt Wasser im eisernen Kessel. Kyorai legt sorgfältig Papier zurecht, der Pinsel ruht wie ein stilles Versprechen. Draußen knarren die Bambusstangen im Wind.

Die Hütte in Sagano wird zum Treffpunkt für Dichter, ein Ort für Gespräche bis tief in die Nacht. Hier entsteht Sarumino („Der Affenregenmantel“), eine der bedeutendsten Anthologien der Bashō-Schule, herausgegeben von Kyorai und seinem Freund Nozawa Bonchō. Die Verse dieser Sammlung – manche schlicht wie ein Stein im Moos, andere überraschend wie ein plötzlicher Regenschauer – zeigen, wie weit der neue Stil gediehen ist. Kyorai selbst schreibt Haiku von stiller, klarer Schönheit. Später wird man sagen, sein Stil sei weniger auf grelle Bilder aus, mehr auf Makoto – auf Wahrhaftigkeit.

年たつや家中の禮は星づきよ
toshi tatsu ya / kachū no rei wa / hoshi-zukiyo

Das Jahr vergeht –
im ganzen Haus verneigt man sich
zur Sternennacht.

Als Bashō 1694 stirbt, ist Kyorai derjenige, der in Kyōto die Fackel trägt. Er hält die Prinzipien des shōfū hoch, auch wenn einige alte Gefährten sich anderen Strömungen zuwenden. Briefe fliegen hin und her, scharfsinnig, aber nie hämisch. Kyorai diskutiert mit Takarai Kikaku in Edo, mit Morikawa Kyoriku in Ōmi, immer um die Frage: Was ist der rechte Weg des Haikai? Aus diesen Debatten entstehen kleine Prosawerke, etwa Zoku Kikaku sensei sho oder Tō Kyoshi monnan ben, die uns heute tiefe Einblicke in den literarischen Diskurs der Zeit geben.

Sommer in Sagano: Zikadenlärm hängt wie eine Decke über den Gärten. Der Schatten der Bambushaine ist dicht, kühl wie Wasser. Auf dem niedrigen Tisch liegen Manuskripte, halb beschwert mit einem Stein, damit der Wind sie nicht davonträgt.

Sein bedeutendstes Werk aber ist das Kyōrai-shō. In den letzten Jahren seines Lebens notiert Kyorai hier Bashōs Gedanken, Anekdoten aus dem Dichterkreis, Regeln der Dichtkunst – ein Schatzkästchen für alle, die Bashō verstehen wollen. Gedruckt wird es erst 1775, doch schon im Manuskript zirkuliert es unter jenen, die sich der klassischen Schule verpflichtet fühlen.

町筋は祭に似たり夕涼み
machisuji wa / matsuri ni nitari / yūsuzumi

Die Gassen der Stadt –
wie ein Fest
in der Abendkühle.

Kyorai starb im ersten Jahr der Hōei-Ära. Sein Grab, nur ein kleiner Stein hinter der Rakushisha, enthält der Überlieferung nach nicht einmal seinen ganzen Leichnam, sondern nur eine Haarlocke.

見し天も今は孫子や墓参り
mishi ten mo / ima wa mago-ko ya / haka-mairi

Den Himmel, den ich gesehen habe,
sehen nun Kinder und Enkel –
beim Grabbesuch.

Vielleicht ist es diese Bescheidenheit, die Mukai Kyorai für uns heute so interessant macht. In einer Zeit, in der vieles laut und grell war – auch in der Kunst – wählte er den Weg der leisen Töne. Er war ein Dichter, der dem Augenblick zuhörte, dem Regen auf Bambus, dem fallenden Blatt. Und so steht seine Hütte noch immer da, zwischen den Kakibäumen, als Einladung, innezuhalten.

Quellen & weiterführende Links

Hier findest du eine Liste japanischer Originalquellen und renommierter Quellen.

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