
Krähen begleiten uns durch das Jahr. Mal als schlauer Geselle, mal als Bote des Unheils – ihr Ruf eilt ihnen voraus. In den Haiku großer Meister taucht die Krähe immer wieder auf. Mal lachend, mal krächzend, mal einsam in der Dämmerung. Sie ist ein Wesen zwischen Licht und Schatten, zwischen Spott und Stille. Schauen wir, was sie uns zuflüstert.
Auf Japanisch heißt sie übrigens Karasu, was gar nicht so fremd wirkt. Die Ähnlichkeit zu unserem Wort könnte mit dem Krächzen der Tiere zu tun haben.
Hier ist eine kleine Auswahl von Haiku, die den großen schwarzen Vogel zum Inhalt haben.
Am Holzkohlefeuer –
der Mond ist verschwunden,
eine Krähe ruft.
Kobayashi Issa (1763–1828)
Die Kinder …
und sogar die Krähen machen mit,
beim Kastaniensammeln.
Kobayashi Issa
Herbst. Kastanien glänzen auf dem Boden, und Kinder sammeln sie ein. Ein Moment kindlicher Freude – und mittendrin die Krähen. Vielleicht schnappen sie sich eine, vielleicht sind sie nur neugierig. Issa zeigt, dass die Welt nicht nur die der Menschen ist. In seinen Versen gibt es keinen Unterschied zwischen Kind und Vogel.
die Krähe krächzt –
auch ich bin
allein
Taneda Santoka (1882–1940)
Ein Ruf aus der Ferne. Eine Stimme im leeren Raum. Santokas Haiku steht in dunkler Stille. Die Krähe krächzt – ein einsamer Klang, der nirgends verhallt. Und plötzlich spürt der Mensch, dass er ebenso allein ist. Kein Trost, nur das Echo einer Welt, die weiterzieht.

Wie ich sie hasse –
doch wenn Schnee fällt,
ist sogar die Krähe schön.
Matsuo Basho (1644–1694)
Die Krähe ist nicht gerade beliebt. Sie krächzt laut, sie stiehlt, sie wirkt düster, sie macht Angst. Aber dann kommt der Schnee. Er deckt alles mit Stille zu, selbst den Unmut. Plötzlich sieht der Mensch den Vogel mit anderen Augen. Ein schwarzer Punkt im Weiß, ein Zeichen der Vergänglichkeit. Manchmal braucht es nur einen Moment, um etwas zu sehen, das immer da war.
Auf dem kahlen Zweig
sitzt eine Krähe –
Herbstdämmer.
Matsuo Basho
Dunkelheit legt sich über das Land. Ein letzter Moment des Tages, in dem alles für einen Atemzug innehält. Die Krähe sitzt auf einem kahlen Ast – ein Bild, das so einfach und doch vollkommen ist. Dieses Haiku ist eines der berühmtesten überhaupt. Jeder kennt es, jeder spürt die Stille, die darin liegt.
Nur schlechte Träume,
und alle sind eingetroffen –
der Rabe krächzt.
Kobayashi Issa
Zur Seite gehüpft –
die Krähe lacht
über den Schneeball.
Kobayashi Issa
Die Krähe springt zur Seite, als hätte sie den Wurf erahnt. Und dann, so scheint es, lacht sie. Spöttisch womöglich. Natürlich lacht eine Krähe nicht wie ein Mensch. Doch Issa hat ihr genau diesen Ausdruck verliehen – mit einem Augenzwinkern. Es ist diese spielerische Leichtigkeit, die sein Haiku so lebendig macht.
Ein persönliches Haiku, womöglich eine Reaktion auf einen Schicksalsschlag oder eine bittere Erfahrung. Man spürt Resignation, aber mit einem leisen, fast ironischen Humor.
Ausgerechnet im Pflaumenbaum
sitzt und schimpft –
die Krähe!
Kobayashi Issa
irgendwo
in meinem Kopf
kreischt eine Krähe
Taneda Santoka
Ein fast schon brutales Haiku. Santoka quälten seine Dämonen. Manchmal kommt der Lärm nicht von außen. Er sitzt tief in uns. Eine Krähe, die nicht am Himmel fliegt, sondern in Gedanken kreist. Ihr Ruf ist kein Geräusch, sondern eine Unruhe, ein nicht enden wollendes Krächzen im Inneren. Santoka wusste, wie es sich anfühlt, wenn das Schweigen nicht still ist.

Ein Schwarzer Vogel zwischen Licht und Schatten
Die Krähe lacht. Die Krähe krächzt. Sie ist allein, sie ist mittendrin. Sie sitzt auf dem Zweig, sie fliegt durch den Kopf. Mal ist sie ein spielerischer Begleiter, mal ein Bote der Einsamkeit. So wie wir sie sehen wollen, so erscheint sie uns. Mal dunkel, mal schön, mal vertraut. Vielleicht ist sie deshalb in so manchem Haiku zu Gast.

Es ist, wie es ist; und die Krähen sind, was sie immer waren. Schwarz und unheimlich. Such dir ein Haiku aus. Eines, das du behältst, mitnimmst – für den Moment, an dem es passt.
Werkstattbericht
Die Grafiken wurden von DALL-E und dem Microsoft Designer via Bing generiert.
Wie ich übersetze
Die Übersetzungen stammen von Lenny Löwenstern. Jede Zeile wurde sorgsam bearbeitet – nicht automatisch, sondern mit modernen Werkzeugen. Ziel war, das Wesen der japanischen Originale zu bewahren – in einer Sprache, die heute berührt.