Tan Taigi (1709–1771) – Ein Haiku-Leben zwischen Dichterklause und Vergnügungsviertel

Tan Taigi (1709–1771) - Ein Haiku-Leben zwischen Dichterklause und Vergnügungsviertel

Oben: Zeitreisefoto des Tan Taigi nach einem zeitgenössischen Holzschnitt von einer KI erstellt

Kyōto, Mitte des 18. Jahrhunderts: In den schmalen Gassen des ummauerten Vergnügungsviertels Shimabara flimmern Öllampen, in den Teehäusern wird gelacht, diskutiert, musiziert. Und mittendrin sitzt ein Dichter, der seinen Unterschlupf Fuya-an nennt – die Klause ohne Nacht.

Der Name ist Programm: Hier wird nie ganz dunkel, die Stimmen und das Licht halten bis in die Morgenstunden. Der Zusatz 五雲坊 (Mönch der fünf Wolken) war einer seiner bekannten Künstlernamen.

Tan Taigi (1709–1771) ist kein weltabgewandter Gelehrter, sondern ein Meister der kurzen Form, der die Welt dorthin holt, wo sie pulsiert: an die Tische der Kurtisanen, der Schauspieler, der Kaufleute. Hier lehrt er Haiku, korrigiert erste Verse, schreibt Widmungen in Fächer – und komponiert selbst Gedichte von präziser Menschennähe.

Hirune shite te no ugokiyamu ucHiwa kana

Mittagsschlaf –
die Hand ruht,
der Fächer fällt.

Herkunft, Namen, frühe Lehrjahre

Taigi kommt 1709 in Edo zur Welt. Über seine Familie ist wenig bekannt. Er verwendet im Lauf seines Lebens mehrere Dichternamen und Beinamen, darunter Mizugo, Santei, Fuy­a-an und Tokumo. Das war in der Haiku-Szene nicht ungewöhnlich, konnte aber für Außenstehende verwirrend wirken.

Seine Lehrjahre verbringt er bei den Meistern Suikoku und Kiitsu (Namen prüfe ich). In Edo wird er zu einem anerkannten Lehrer und Preisrichter bei Dichtwettbewerben. Um 1751/52 beginnt eine Reihe von Reisen: zunächst durch den Norden Japans, dann in die Kaiserstadt Kyōto, wo er dauerhaft bleibt – unterbrochen nur von einer kurzen Rückkehr nach Edo im Jahr 1756.

Ein Mönch – für kurze Zeit

1753 tritt Taigi in den Zen-Tempel Daitoku-ji ein, in die Einsiedelei Shinjuan, und nimmt den Dharma-Namen Dōgen an. Die klösterliche Strenge hält ihn nicht lange. Schon im folgenden Jahr verlässt er den Tempel wieder – ein Bruch, der für seine Zeit nicht nur persönlich, sondern auch gesellschaftlich bemerkenswert ist.

新茶煮る暁おきや仏生会
Shincha niru / akatsuki oki ya / Busshōe

Jungen Tee bereiten,
bei Tagesgrauen aufstehen –
Buddhas Geburtstag.

Shimabara: Schule im „Viertel ohne Nacht“

Taigi zieht ins lizenzierte Vergnügungsviertel Shimabara, eine ummauerte Stadt in der Stadt, mit Theatern, Teehäusern, Musik und Kurtisanen. Unter diesen sind die Oiran – hochrangige, oft gebildete Edelprostituierte mit eigenem Gefolge – gesellschaftlich herausgehoben. Für einen Dichter bedeutete es einen bewussten Schritt aus dem respektablen Gelehrtenkreis in eine Welt, die von Konventionen als anrüchig galt. Es konnte Ansehen kosten – und doch brachte genau dieses Umfeld ihm neue Schüler, Kontakte und Themen.

In der Nähe des Hauses Kikyōya richtet er seine kleine Schule ein und unterrichtet Geishas, Oiran, Wirtsleute und Gäste. Man lernt Schreiben, Kalligraphie, Waka – und vor allem Haiku. Dass ein Dichter nicht in die Berge geht, sondern ins Nachtviertel, ist ein Bruch mit dem Ideal des zurückgezogenen Poeten. Für Taigi wird es zur Quelle. Er beobachtet soziale Gesten, kleine Dramen, Komik und Milde des Alltags – Stoff für Verse, die nicht überhöhen, sondern treffen.

永き夜を半分酒に遣ひけり
nagaki yo wo / hanbun sake ni / tsukai keri

Die lange Nacht –
zur Hälfte habe ich sie
mit Sake verbracht.

Freundschaft und künstlerische Gemeinschaft

In Kyōto begegnet Taigi Yosa Buson. Beide verbindet die Liebe zur klassischen Bashō-Linie und zur Bildhaftigkeit. Buson, Maler und Dichter, besucht Taigi häufig in Shimabara; 1766 formiert er in Kyōto die Haikai-Vereinigung „Sankasha“, die die Erneuerung des Stils vorantreibt. Taigi wird dort zu einer wichtigen Stimme der späten Blüte. Buson schreibt später das Vorwort zu einer Auswahl seiner Gedichte. Freundschaft, künstlerischer Austausch und gegenseitige Wertschätzung prägen diese Jahre.

長き夜や夢想さらりと忘れける
Nagaki yo ya / musō sarari to / wasurekeru

Lange Nacht –
die Träumereien
wie von selbst vergessen.

Werke und Nachlass

Zu Lebzeiten und kurz danach erscheinen mehrere Sammlungen: „Miyako no tsuto“ (1752), „Taigi Kusen“ (1768) und der postum edierte Ergänzungsband „Taigi Kusen Kōhen“ (1777). Dazu kommt „Onitsura Kusen“ (1769), eine kommentierte Auswahl des älteren Meisters Uejima Onitsura. Die Bände enthalten den Kern seines überlieferten Werkes und zeigen, wie er sich selbst in der Tradition verortete – als Bewahrer und Erneuerer zugleich.

木がらしや手にみえ初る老が皺
Kogarashi ya / te ni mie-soru / o no shiwa

Winterhauch –
an den Händen werden sie sichtbar,
die Falten des Alters.

Alltag und Tonlage

Wer in Shimabara lebt, sieht nicht nur Glanz. Taigi schreibt über Arbeit, Dienstboten, die Müdigkeit der Sommernächte, über Höflichkeiten, die kippen, und über Heiterkeit, die plötzlich ernst wird. Er kann sanft, zart und sehr knapp sein, dann wieder spitz – aber selten bitter. Immer wieder blitzt Komik in einem Detail, das den ganzen Raum kippen lässt: eine Geste, ein misslungener Griff, eine falsche Antwort, die den Charakter verrät. Die Sprache bleibt schlicht, der Schnitt präzise.

暮遅く日の這わたる畳かな
Kure osoku / hi no hawataru / tatami kana

Abenddämmerung –
Sonnenlicht kriecht über
die Tatami.

Letzte Jahre und Nachwirken

In den späten 1760ern, getragen von der Gemeinschaft um Buson, erreicht Taigi noch einmal einen Höhepunkt. Er stirbt 1771 in Kyōto, sein Grab befindet sich im Kōrin-ji im Stadtbezirk Shimogyō. Auf dem Stein steht „Grab des Fuya-an Taigi“. Heute gilt er als einer der Meister der mittleren Edo-Zeit – nicht als Einsiedler, sondern als Dichter der Menschenmenge, der das angeblich „Vulgäre“ des Alltags mit Genauigkeit und Würde behandelt hat.

帷子や蝿のつといる袖のうち
Katabira ya / hae no tsuto iru / sode no uchi

Sommerkimono –
eine Fliege huscht
in den Ärmel.

Weitere Haiku von Tan Taigi

Taigi ist der Anti-Intellektuelle unter den Haiku-Meistern. Einer, der im Vergnügungsviertel sitzt und das Leben nimmt, wie es kommt. Seine Einfachheit ist dabei aber alles andere als simpel – sie ist raffiniert beobachtet und präzise formuliert.

二里といひ一里ともいふ花野哉
Niri to ii / ichiri to mo iu / hanano kana

Zwei Meilen sagt man,
eine Meile sagen andere –
das Blumenfeld.

年よれば疲もをかし更衣
Toshi yoreba / tsukare mo okashi / koromogae

Wenn man älter wird,
bekommt sogar Gemächlichkeit Stil –
Kleiderwechsel.

朝市や通かゝりてけふの菊
Asaichi ya / tōkakarite / kyō no kiku

Morgenmarkt –
im Vorübergehen
die Chrysanthemen von heute.

里の子や髪に結なす春の草
sato no ko ya / kami ni yunasu / haru no kusa

Dorfkind –
ins Haar geflochten,
Frühlingsgras.

Quellen

Hier ist eine Linksammlung der wichtigsten japanischen und japanischsprachigen Quellen, die für den Artikel zu Tan Taigi verwendet wurden:

Die Grafiken wurden von DALL-E und dem Microsoft Designer via Bing generiert.

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Übersetzerhinweis

Wie ich übersetze
Die Übersetzungen stammen von Lenny Löwenstern. Jede Zeile wurde sorgsam bearbeitet – nicht automatisch, sondern mit viel Sprachgefühl und modernen Werkzeugen. Ziel war, das Wesen der japanischen Originale zu bewahren – in einer Weise, die heute berührt.
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