
Kein Material biegt sich so elegant und bleibt dabei unzerbrechlich – vielleicht ist das der Grund, warum Bambus in der japanischen Dichtung allgegenwärtig ist. In der Poesie der Edo-Zeit und darüber hinaus taucht er immer wieder auf.
Die alten Meister fanden im Bambus (take) einen verlässlichen Zeugen ihrer Beobachtungen. Er raschelt, wenn der Wind durch seine Halme fährt, er wirft Schatten, die zum Spiel einladen, er schießt nach dem Winter mit erstaunlicher Kraft aus dem Boden.
Manchmal ist er nur Kulisse – für eine rastende Libelle, für Mondlicht, das durch dichte Haine sickert, oder für die ganz profanen Momente des Lebens, wenn selbst das bescheidenste Klohäuschen seinen Bambusschatten wirft.
Was den Bambus so besonders macht für die Haijin. Er verbindet das Elegante mit dem Alltäglichen. Er kann Teil eines kunstvollen Gartens sein oder in Wäldern wachsen. Er dient als Baumaterial und Ausgangsmaterial für Vorhänge in vornehmen Häusern, als Jalousie oder als simpler Regenhut für wandernde Mönche.
Diese Vielseitigkeit macht ihn zum perfekten Begleiter für eine Dichtkunst, die das Große im Kleinen sucht und keinen Unterschied macht zwischen Erhabenem und Gewöhnlichem.
Vogelsang im Bambusgras –
Kobayashi Issa (1763–1828)
noch zu schüchtern
für den Zaun.
Auf meinem Bambushut
Taneda Santōka (1882–1940)
lasse ich eine Libelle rasten –
ich gehe weiter.
Junge Bambushalme –
Kobayashi Issa
schwankende Libellen
spielen mit ihnen.
Tropfen für Tropfen –
Masaoka Shiki (1867–1902)
das Geräusch des Regens
am Bambusvorhang.
der Winter kommt –
Taneda Santōka
zerbrochenes Holz
verstreuter Bambus
Ein Frühlingstag –
Kaya Shirao (1738–1791)
lautlos vergeht er
hinter dem Bambusvorhang.
Haiku? Wenn du Haiku zum ersten Mal liest, kannst du sie einfach auf dich wirken lassen. Klassische Haiku sind immer:
– authentisch, nicht nachgemacht
– wirksam, wie Medizin, aber voller Poesie
– traditionsverbunden, aber nie museal
– zeitlos, jedoch nicht verstaubt
Hier sind Haiku Klassiker Beispiele. Für mehr Hintergrund und Tipps zur Anwendung im Alltag gibt es weiterführende Seiten:
↬ Was ist ein Haiku?
↬ Was ist das Geheimnis der Haiku?
Herbstniesel –
Taneda Santōka
unter dem Bambushut
bitte ich um Wasser
Der erste Schnee
Yosa Buson (1716–1784)
fällt von den Zweigen –
Mond über dem Bambus.
Der Kuckuck –
Matsuo Bashō (1644–1694)
durch den Bambusforst
sickert Mondlicht.
Vergänglichkeit und Ewigkeit – der kurze Ruf des Kuckucks, auch wenn der gar nicht erwähnt wird, und die endlose Mondnacht. Der Begriff Forst gibt dem Bild eine etwas mystischere, altertümlichere Stimmung. Es klingt klangvoller und literarischer als „Wald“ und behält gleichzeitig die Dichte und Tiefe des Bambuslandschaftsbildes.
Das Rascheln des Reises
Kawahigashi Hekigotō (1873–1937)
im Bambussieb –
auch das ist der Abend.
Das Poetische im Banalen. Das Gedicht hat keinerlei Symbolik – es ist reines Hören, reine Gegenwart.
nach langer Zeit
Taneda Santōka
kehre ich zurück –
der Bambus schießt
Junger Bambus –
Yosa Buson
gibt es noch Kurtisanen
in Hashimoto?
Hashimoto war ein bekannter Ort für Vergnügungsviertel.

Herbstsonne –
Yosa Buson
in Saga auf Schatten
von Bambus treten.
Saga: eine Region in Kyoto, bekannt für ihre Bambushaine und Tempel.
Grüner Bambusvorhang –
Kobayashi Issa
dahinter wandelt eine Schöne
in weißem Gewand.
Sieh mal einer an –
Masaoka Shiki
im Klofenster
Bambusschatten.
Hier wird jemand eines Kunstwerkes gewahr – auf dem Klo. Stell dir das Fenster als kleines helles Papierfensterchen vor. Milchglas wäre unsere Entsprechung dafür, geht auch.

Es ist, wie es ist; und der Bambus ist, was er immer war. Geschmeidig und zugleich fest. Such dir ein Haiku aus. Eines, das du behältst, mitnimmst – für den Moment, an dem es passt.
Werkstattbericht
Die Grafiken wurden von DALL-E und dem Microsoft Designer via Bing generiert.


