
Seegurkengedichte, wer käme außerhalb Japans auf so eine Idee? Ein schleimiges, unscheinbares Meerestier, ohne erkennbare Form, ohne Stimme, ohne Ausdruck – und doch Gegenstand poetischer Betrachtung seit Jahrhunderten.
In der japanischen Dichtung ist die Seegurke (海鼠, namako) kein Kuriosum, sondern ein Prüfstein für genaues Hinsehen. Gedanken kann man sich schließlich über alles machen.
Während westliche Poesie lange Schönheit, Erhabenheit oder Dramatik suchte (heute natürlich nicht mehr), erkannte das Haiku die Würde des Gewöhnlichen. Selbst das formlose, fast lächerliche Lebewesen im Sand verdient Aufmerksamkeit.
Dichter wie Tan Taigi, Masaoka Shiki oder Kawahigashi Hekigotō sahen in ihm ein Sinnbild für das stille, unbewegte Leben – für Einfachheit, Geduld, Dasein ohne Aufruhr.
In diesen Versen wird die Seegurke zur Metapher für das pure Sein. Nicht Symbol, nicht Allegorie – nur Präsenz. Ein kleines, kühles Tier, das durch Wasser und Winter treibt und den Dichter an etwas erinnert, das größer ist als Worte. Nämlich an das Leben selbst, unscheinbar, ungestalt und unendlich zugleich.
尾頭の心もとなき海鼠かな
Von Kopf bis Schwanz
so mutlos und weich –
die Seegurke.
Mukai Kyorai (1651-1704)
千百里漂ひ来る海鼠かな
sen byaku ri / tadayoikuru / namako kana
Über sieben Meere
angeschwemmt –
die Seegurke!
Kawahigashi Hekigotō (1873–1937)
砂の中に海鼠の氷る小さゝよ
suna no naka ni / namako no kōru / chiisa-sa yo
Inmitten von Sand
ist die Seegurke erstarrt –
diese Winzigkeit!
Kawahigashi Hekigotō
鬼もいや菩薩もいやとなまこ哉
oni mo iya / bosatsu mo iya to / namako kana (1814)
Weder Dämon,
noch Bodhisattva –
Seegurke!
Kobayashi Issa
Wie unterschiedlich sich Dichter der Seegurke näherten, zeigt Hattori Ransetsu. Zwischen Humor, Zweifel und Akzeptanz schwingt hier die ganze Freiheit des Haiku mit. Nichts ist zu gering, um Stoff für Erkenntnis zu werden.
海鼠喰ふはきたないものかお僧達
namako kuu wa / kitanai mono ka / osōtachi
Seegurken essen –
ist das unrein,
ihr Mönche?
Hattori Ransetsu (1654–1707)
Das geht auch moderner, vielleicht so:
Seegurken essen –
ist das vegan,
ihr Mönche?
Ein augenzwinkernder Seitenhieb auf klösterliche Speisevorschriften. In der Edo-Zeit waren buddhistische Mönche teils vegetarisch, teils pragmatisch – Fisch galt nicht immer als Fleisch. Ransetsu spielt mit der Unsicherheit: Ist die Seegurke Fisch, Pflanze oder bloß Schleim?
Übrigens …
Die Seegurke hat weder Flossen noch Schuppen, gehört zoologisch nicht einmal zu den Fischen, sondern zu den Stachelhäutern (wie Seeigel oder Seesterne). Damit fällt sie eindeutig in die Kategorie der nicht koscheren Meeresbewohner, zusammen mit Tintenfisch, Muschel, Garnele, Aal und so weiter …
海鼠だゝみや有し形を忘れ顔
namako dadami ya / ari shi katachi o / wasuregao
Glitschige Seegurke –
ein Gesicht,
das seine Form vergessen hat.
Tan Taigi (Sumitai) (1709–1771)
浮け海鼠仏法流布の世なるぞよ
uke namako / buppō rufu no / yo naru zo yo (1814)
Treibende Seegurke –
Buddhas Lehre breitet sich aus,
so ist es!
Kobayashi Issa (1763–1828)
Issa kommentiert hier auf seine unnachahmliche Weise das Zeitalter der Heuchelei und religiösen Mode. Im späten Edo-Japan galt der Buddhismus vielerorts als gesellschaftlich etabliert, aber geistlich leer. Dass „Buddhas Lehre sich verbreitet“ (buppō rufu no yo) war ein geflügeltes Wort, das man auch für Weltverbesserung oder öffentliche Moral gebrauchte. Issa nimmt das wörtlich – und zeigt eine Seegurke, die träge im Wasser treibt: auch sie „schwimmt“ im Meer des Dharma. Das Haiku ist gleichzeitig Satire und Gleichnis: Die Seegurke verbreitet nichts, sie treibt nur. So auch viele, die vom Dharma reden. Aber in Issas Welt bleibt Mitgefühl: Auch die Seegurke, unbeholfen und dumpf, gehört zur Buddha-Natur.

何の故に恐縮したる生海鼠哉
nan no yue ni / kyōshuku shitaru / nama namako kana
Warum nur
so verlegen,
liebe Seegurke?
Sōseki Natsume (1867–1916)
Sōseki sieht sie frisch vor sich, vielleicht auf einem Teller im Restaurant oder auf dem Markt. Sie ist noch feucht, durchsichtig, leicht zuckend – also „roh“ im wörtlichen Sinn. Sōseki wendet hier einen typisch modernen, fast psychoanalytischen Blick auf ein Tier an. Die Seegurke liegt wahrscheinlich auf einem Teller oder in einer Schale – weich, glitschig, in sich zusammengesunken. Der Dichter betrachtet sie mit Mitgefühl oder ironischer Zärtlichkeit.
古往今来切つて血の出ぬ海鼠かな
koō konrai / kitte chi no denu / namako kana
Von Anbeginn
ohne Blutvergießen –
die Seegurke!
Sōseki Natsume
Die Seegurke, formlos, friedlich, ohne Blut, ist das Gegenteil des Menschen — besonders des japanischen Menschen seiner Zeit, gefangen zwischen Disziplin, Pflicht und Militarismus. Vom Menschen lässt sich das leider nicht sagen.
人ならば仏性なるなまこ哉
hito naraba / hotokeshō naru / namako kana (1810)
Wären sie Menschen,
sie hätten Buddha-Natur –
Seegurken!
Kobayashi Issa
Issa bringt hier seine typische Mitfühlphilosophie auf den Punkt. Er sieht im Niedrigsten, Formlosesten das Gleiche göttliche Potenzial wie im Menschen. Im Grunde sagt er: Sie wären bessere Menschen als wir – friedlich, genügsam, ohne Eitelkeit. Fragt sich nur, ob wir im Gegenzug die besseren Seegurken wären. Man muss es bezweifeln.
Auch Masaoka Shiki war auch ein großer Seegurkler …
世の中をかしこくくらす海鼠哉
Yo no naka o / kashikoku kurasu / namako kana
In dieser geschäftigen Welt,
wie klug lebt da
die Seegurke!
Eine kluge Lebensweise: Sie mischt sich nicht ein, gerät nicht in Konflikte, bleibt sich treu. In einer Welt voller Lärm, Geschäftigkeit und Täuschung (yo no naka) erscheint ihr Dasein fast vorbildlich.
Masaoka Shiki (1867–1902)
無為にして海鼠一万八千歳
Mui ni shite / namako ichiman / hassen-sai
Nichtstun –
die Seegurke lebt
18.000 Jahre.
Masaoka Shiki
渾沌をかりに名づけて海鼠かな
konton o / kari ni nadzukete / namako kana
Das Chaos
einstweilig benannt –
Seegurke!
Masaoka Shiki
Das ist Shiki auf der Höhe seiner ironischen Philosophie. Er betrachtet die Seegurke nicht mehr als Naturding, sondern als Metapher für das Ungeformte selbst. Ihr form- und gesichtsloser Körper erinnert ihn an das mythische Hundun (渾沌), den urzeitlichen Chaosgott aus dem Zhuangzi, der keine Öffnungen hatte – ein Wesen ohne Augen, Mund oder Nase.
Shiki sagt also scherzhaft-ehrfürchtig: Wenn ich das Ungeformte dieser Welt benennen müsste, ich würde es „Seegurke“ nennen. Das „vorläufig“ (kari ni) ist typisch Shiki: rational, aber poetisch – er weiß, dass jede Benennung unzureichend ist. So wird das Haiku zur miniaturhaften Kosmologie: Sprache ordnet, Natur bleibt Chaos. Klanglich ist der Vers weich und schwer zugleich (konton o kari ni nadzukete namako kana), wie das Treiben des Tiers selbst – ein lautlicher Ausdruck des Formlosen.

Die Grafiken wurden von DALL-E und dem Microsoft Designer via Bing generiert.


