Natsume Sōseki (1867–1916) – Schriftsteller und Haikudichter

Natsume Sōseki Portrait generiert von ChatGPT nach Originalfotos

Oben: Das Portrait generierte ChatGPT nach Originalfotos

Er war ein Denker, ein Zweifler, ein stiller Träumer. Und einer der größten Schriftsteller Japans. Doch was viele nicht wissen, Natsume Sōseki war auch ein leidenschaftlicher Haiku-Dichter. Um die zweitausend Dreizeiliger hat er im Lauf seines Lebens verfasst. Nicht als Spielerei. Nicht als Mode. Sondern als Ausdruck einer inneren Notwendigkeit – als Mittel, mit der Welt und sich selbst ins Reine zu kommen.

Der Mann, der Japans Literatur neu erfand

London, Winter 1901. In einem schäbigen Zimmer in der Gower Street, eingeschlossen zwischen verstaubten Bücherstapeln und beschriebenen Notizen, die sich zu einem Turm von 15 Zentimetern auftürmen, sitzt ein Mann und schreibt. Seine Schrift ist so winzig, dass man sie kaum entziffern kann – »蠅頭の細字«, Fliegenkopf-Schrift nennt man das in Japan. Die Handschrift eines Menschen, der versucht, ein ganzes Universum auf begrenztem Raum unterzubringen.

Der 33-jährige Japaner Natsume Kinnosuke, der sich Sōseki nennt, hat aufgehört, dem japanischen Bildungsministerium Berichte zu schicken. Stattdessen verschickt er leere Formulare. Er wechselt ständig die Unterkunft, fünfmal in zwei Jahren. Er hört Stimmen. Er fühlt sich verfolgt. Zurück in Japan geht das Gerücht um: »Natsume ist verrückt geworden.«

Und doch schreibt er, rasend, besessen. Er schreibt über eine fundamentale Krise: Was ist Literatur eigentlich? Wie kann es sein, dass chinesische und englische Dichtung völlig verschiedenen Gesetzen gehorchen? Er hat beschlossen, die Frage von Grund auf neu zu durchdenken. Diese Londoner Hölle, diese 769 Tage zwischen Oktober 1900 und Dezember 1902, die er später die »zwei unangenehmsten Jahre meines Lebens« nennen wird – sie sind der Schmelztiegel, in dem Japans bedeutendster moderner Schriftsteller geschmiedet wird.

Die Geburt eines Unwillkommenen

Beginnen wir am Anfang. Am 9. Februar 1867 wird in Ushigome Babashita Yokochō in Edo – dem späteren Tokyo – ein Junge geboren, den niemand haben will. Es ist ein kōshin-Tag, ein Tag, an dem geborene Kinder zu Dieben werden, so sagt der Aberglaube. Der Vater Natsume Kohē Naokatsu ist 51 Jahre alt, Stadtvogt mit erheblicher Macht. Die Mutter Chie ist 42, seine zweite Frau. Mit acht Kindern ist die Familie voll. Der kleine Kinnosuke – so nennen sie ihn, mit dem Schriftzeichen für Gold als Schutz gegen das Schicksal – ist das fünfte Kind zu viel.

Die Schwester findet ihn einmal zwischen den Waren schlafen. Kurz nach der Geburt wird er in Pflege gegeben. Mit einem Jahr adoptiert ihn das Ehepaar Shiobara Masanosuke und Yasu. Er wird ihr offizieller Erbe. Doch die Ehe zerbricht. 1875, mit neun Jahren, kehrt der Junge zur Familie Natsume zurück. Erst mit 21 Jahren wird er offiziell wieder ins Familienregister eingetragen. Ein Mensch, der dreimal geboren wird, könnte man sagen. Ein Leben, das mit Verlassenwerden beginnt.

灯もつけず雨戸も引かず梅の花

Kein Licht entzündet,
die Fensterläden noch geöffnet –
Pflaumenblüten!

Und dann kommt das Unglück. Im Januar 1881 stirbt die Mutter. Der 13-jährige Kinnosuke ist zu jung, um den Verlust zu verarbeiten. Mit drei Jahren hatte er Pocken, die permanente Narben in seinem Gesicht hinterlassen haben. Diese Narben werden sein Selbstbewusstsein ein Leben lang belasten. Die Brüder Daisuke und Einosuke sterben beide 1887 innerhalb von drei Monaten. Sein Bruder Wasaburō verliert 1891 seine Frau Toyo – und man sagt, Sōseki selbst habe romantische Gefühle für sie gehabt.

Was macht Verlassenwerden mit einem Menschen? Was macht es mit einem Kind, das dreimal nicht gewollt war, das mit Narben aufwächst, das Tod und Trennung erlebt, bevor es versteht, was Leben bedeutet?

Die Flucht in die Literatur

1881 tritt der 14-jährige Sōseki in die Nishōgakusha ein, eine Privatschule für chinesische Klassiker. Ein Jahr lang taucht er in die konfuzianischen Texte ein, in eine Welt der Ordnung und Bedeutung. Doch dann kommt die Wende: 1883 beginnt er Englisch zu lernen. Es ist der Moment, in dem Japan selbst zwischen zwei Welten steht – zwischen der Meiji-Restauration und der Moderne, zwischen alter Tradition und westlicher Zivilisation.

同じ橋三たび渡りぬ春の宵

Dreimal überquerte ich
dieselbe Brücke –
Frühlingsabend.

1884 besteht er die Aufnahmeprüfung für die University Preparatory School. Zwei Jahre später, 1886, scheitert er an der Versetzungsprüfung – wegen einer Blinddarmentzündung. Er wiederholt das Jahr. Danach aber explodiert sein Talent. Besonders in Englisch erreicht er Spitzenleistungen.

Und dann, 1889, die entscheidende Begegnung. An der First Higher School trifft er Masaoka Shiki. Es ist der Beginn der wichtigsten Freundschaft seines Lebens. Shiki ist bereits ein anerkannter Haiku-Dichter, charismatisch, genial, todkrank. Er gibt dem Freund den Künstlernamen »Sōseki« – abgeleitet von der chinesischen Redewendung »漱石枕流«, die einen sturköpfigen Menschen beschreibt, der seine Fehler nicht zugibt. Ein treffender Name.

1890 tritt Sōseki in die English Literature Department der Imperial University ein – als einziger Student seines Jahrgangs. Stell dir das vor: ein ganzer Jahrgang, nur ein Student. Schon hier beginnen die Symptome. Neurasthenie, wie man es damals nennt. Pessimismus. Die psychischen Wunden der Kindheit werden nie heilen.

吾恋は闇夜に似たる月夜かな (1891)

Meine Liebe ist dunkel,
wie eine mondhelle
Nacht.

Matsuyama: 52 Tage mit einem sterbenden Freund

Nach dem Abschluss 1893 wird Sōseki Englischlehrer. Im April 1895 geht er nach Matsuyama auf die Insel Shikoku. Sein Gehalt: 80 Yen pro Monat – mehr als der Schuldirektor verdient. Aber das Entscheidende ist etwas anderes.

Am 27. August 1895 trifft Masaoka Shiki in Matsuyama ein. Er kommt direkt vom Ersten Chinesisch-Japanischen Krieg zurück, wo er als Kriegsberichterstatter gedient hat. Er ist schwer krank, seine Tuberkulose der Wirbelsäule ist fortgeschritten. Sōseki nimmt den Freund bei sich auf, im Gudabutsu-an, einem kleinen Haus.

52 Tage leben sie zusammen. Vom 27. August bis zum 17. Oktober 1895. Es ist die intensivste Haiku-Schaffensperiode von Sōsekis Leben. Shiki lehrt, Sōseki lernt. Sie schreiben, diskutieren, lachen. Ein sterbender Dichter und sein Schüler, eingeschlossen in einem Haus auf Shikoku, während draußen der Herbst kommt.

灯を消せば涼しき星や窓に入る

Wenn das Licht erlischt,
treten die kalten Sterne
durch das Fenster ein.

Diese 52 Tage werden später »Botchan« inspirieren, Sōsekis berühmtesten Roman über einen jungen Lehrer in der Provinz. Aber sie bedeuten mehr. Sie sind der letzte ungetrübte Moment der Freundschaft. Am 19. September 1902, während Sōseki in London in seiner dunklen Krise versinkt, stirbt Masaoka Shiki in Tokyo. Er wird 34 Jahre alt.

Die arrangierte Ehe: Kyōko

Im April 1896 wechselt Sōseki nach Kumamoto an die Fifth Higher School. Sein Gehalt steigt auf 100 Yen. Im Dezember 1895 hatte es ein arrangiertes Treffen in Matsuyama gegeben. Am 10. Juni 1896, mit 29 Jahren, heiratet Sōseki Nakane Kyōko, die Tochter des Generalsekretärs des Oberhauses.

Kyōko ist 19, zehn Jahre jünger als ihr Mann. Sie ist selbstbewusst, wohlhabend, eigensinnig. Seine Schüler werden sie später »悪妻« nennen – »schlechte Ehefrau«. Aber das Urteil ist ungerecht. Was diese Frau erdulden wird, würde die meisten Menschen brechen.

Im dritten Ehejahr, nach einer Fehlgeburt, versucht Kyōko Suizid im Shirakawa-Fluss. Sie überlebt. Zwischen 1899 und 1910 bringt sie sieben Kinder zur Welt: Fudeko, Tsuneko, Eiko, Aiko, Jun’ichi, Shinroku und schließlich Hinako. Das letzte Kind, die kleine Hinako, geboren am 2. März 1910, stirbt am 29. November 1911. Sie wird nicht einmal zwei Jahre alt.

秋高し吾白雲に乗らんと思ふ (1896)

So weit ist der Herbsthimmel –
ich wünschte, ich könnte
auf einer weißen Wolke reiten.

Kyōko erträgt Sōsekis gewalttätige Ausbrüche während seiner Nervenzusammenbrüche. Sie kümmert sich um die Kinder, während ihr Mann in dunklen Zimmern sitzt und über Literatur grübelt.

London: Der Zusammenbruch

Im Mai 1900 kommt der Auftrag vom Bildungsministerium: Sōseki soll nach England reisen. Offiziell geht es um Lehrmethoden, nicht um Literatur. Am 8. September 1900 verlässt er Yokohama auf der »Preussen«, einem deutschen Schiff. Die Route führt über Shanghai, Hongkong, Singapur und Genua. Am 28. Oktober 1900 erreicht er London.

Was folgt, ist Hölle. Mit monatlich 15 Pfund kämpft er gegen astronomische Lebenshaltungskosten. Er besucht Vorlesungen am University College London, aber nur zwei bis vier Monate. Dann bricht er ab: »Ich konnte weder das erwartete Interesse noch Wissen gewinnen.« Etwa ein Jahr erhält er Privatunterricht vom Shakespeare-Gelehrten William James Craig. Dann ist auch das vorbei.

Er schließt sich in seinen Unterkünften ein. Er wechselt fünfmal die Adresse. Die intellektuelle Krise ist fundamental: Chinesische und englische Literatur funktionieren nach völlig verschiedenen Prinzipien. Was ist Literatur eigentlich? Er beschließt, die Frage von Grund auf zu untersuchen.

木蓮の花許りなる空を瞻る

Der Himmel, den ich sehe,
ist erfüllt von
Magnolienblüten!

Die Notizen wachsen. 15 Zentimeter hoch stapeln sich die mit Fliegenkopf-Schrift bedeckten Blätter. Es ist der Rohstoff für seine später veröffentlichte »Theorie der Literatur« (文学論). Aber der Preis ist hoch. Er verfällt in schwere Paranoia. Er hört auf, Berichte nach Japan zu schicken. Er fühlt sich verfolgt, verspottet. Er sitzt in dunklen Zimmern und schreibt, schreibt, schreibt.

Das Gerücht erreicht Japan: »Natsume ist verrückt geworden.« Das Ministerium greift ein. Am 5. Dezember 1902 verlässt Sōseki London. Auf dem Schiff zurück begleitet ihn der Psychiater Saitō Kiichi. Am 20. Januar 1903 erreicht er Japan. Ein gebrochener Mann.

Tokyo: Der Phönix steigt auf

Im März 1903 zieht Sōseki nach Sendagi-chō 57 in Tokyo – es ist die frühere Residenz von Mori Ōgai. Am 31. März tritt er von der Fifth Higher School in Kumamoto zurück. Im April 1903 beginnt er gleichzeitig als Dozent an zwei Institutionen: der First Higher School für 700 Yen im Jahr und der Tokyo Imperial University für 800 Yen, zusätzlich ab 1904 an der Meiji University für 30 Yen pro Monat.

Er ist der Nachfolger von Lafcadio Hearn, dem irisch-griechischen Schriftsteller, der Japan für den Westen entdeckt hatte. Die Studenten protestieren. Sie wollen Hearn zurück. Manche wie Kawada Jun wechseln aus Protest zur Rechtsfakultät.

Doch ab Oktober 1903, als Sōseki beginnt, Shakespeare zu unterrichten – »Macbeth«, »King Lear«, »Hamlet« –, explodiert seine Popularität. Der Hörsaal ist überfüllt. Sogar Jura- und Naturwissenschaftsstudenten kommen. Seine Analysen sind detailliert, leidenschaftlich, genial. Er ist nicht mehr der ungeliebte Ersatz. Er ist ein Star.

Aber die psychischen Probleme bleiben. Die gewalttätigen Ausbrüche. Die Reizbarkeit. Die Paranoia. Im Sommer 1904, nach einer besonders schweren Episode, trennt sich Kyōko zwei Monate von ihm. Es ist der Tiefpunkt.

行秋や消えなんとして残る雲

Der Herbst geht,
die Wolken lösen sich auf –
doch eine bleibt.

Dann kommt die Rettung durch einen unerwarteten Helfer. Eine streunende Katze taucht in seinem Haus auf. Das Tier beruhigt ihn. Auf Vorschlag von Takahama Kyoshi beginnt Sōseki zu schreiben – als Therapie. Im Januar 1905 erscheint die erste Folge von »Ich bin eine Katze« im literarischen Magazin »Hototogisu«. Es sollte eine kurze Erzählung werden. Es werden elf Folgen bis August 1906.

Die Katze erzählt die Geschichte. Sie beobachtet ihren Herrn, einen Englischlehrer in Tokyo, und dessen skurrile Freunde. Sie philosophiert über Menschen, Literatur, das moderne Japan. Der Ton ist satirisch, melancholisch, brillant. Sōseki wird über Nacht berühmt.

Die Donnerstage: Eine literarische Schule

Im Oktober 1906 etabliert Sōseki auf Vorschlag von Suzuki Miekichi die Mokuyo-kai, die Donnerstags-Gesellschaft. Jeden Donnerstag ab 15 Uhr öffnet er sein Haus in Waseda Minamicho 7 für Besucher. Es ist kein hierarchischer Zirkel, kein formelles Meister-Schüler-Verhältnis. Es ist ein Salon für gleichberechtigte literarische Diskussionen.

Die »Vier Himmelskönige« werden sich herauskristallisieren: Suzuki Miekichi, der spätere Kinderbuchautor und Gründer des Magazins »Akai Tori« (Der rote Vogel); Komiya Toyotaka, Germanist und Sōsekis späterer Biograph, der »Hoherpriester des Sōseki-Schreins« genannt wird; Morita Sōhei, Romancier; und Abe Yoshishige, Philosoph und späterer Bildungsminister.

Der »erste Schüler« aber steht außerhalb dieser Gruppe: Terada Torahiko, Physiker und Essayist, den Sōseki bereits 1898 in Kumamoto unterrichtet hatte. Ihre Beziehung ist die engste, die tiefste.

Und dann ist da Akutagawa Ryūnosuke, geboren 1892, der beliebteste Schriftsteller unter den Schülern. Der junge Mann mit den großen Augen und der nervösen Intensität, der 1927 Selbstmord begehen wird, elf Jahre nach Sōsekis Tod. »Rashōmon«, »In einem Bambuswald« – Akutagawas Geschichten werden Weltliteratur. Er nennt Sōseki seinen Meister.

Der Bruch mit der Akademie

Am 25. März 1907 kommt die Ankündigung, die die japanische Gesellschaft schockiert: Sōseki kündigt alle akademischen Positionen. Er lehnt das Angebot ab, Vollprofessor an der Tokyo Imperial University zu werden. Er lehnt auch ab, der erste Leiter der Englischen Literaturabteilung an der Kyoto Imperial University zu werden.

Stattdessen tritt er der Asahi Shimbun bei, einer großen Zeitung, als professioneller Schriftsteller. Das Gehalt: 200 Yen pro Monat – mehr als er an der Universität verdient hätte.

In seiner Beitrittserklärung vom 3. Mai 1907 schreibt er: »Wenn Sie schockiert sind, dass ich die ehrenwerte Universitätsposition aufgegeben habe, um Zeitungsschreiber zu werden, bitte hören Sie auf, schockiert zu sein.«

Es ist eine Revolution. In Japan, wo akademische Positionen heilig sind, wo Respekt vor Institutionen alles bedeutet, gibt ein Professor alles auf, um Romane zu schreiben. Es ist ein Statement. Literatur ist wichtiger als Status. Kreativität ist wichtiger als Sicherheit.

Die großen Werke: Ein Universum entsteht

Was folgt, ist eine Schaffensperiode von atemberaubender Produktivität. 1907 erscheint »Gubijinsō« in der Asahi. Von September bis Dezember 1908 folgt »Sanshirō«, die Geschichte eines jungen Mannes aus der Provinz, der nach Tokyo kommt und in der modernen Welt zu navigieren versucht. Von Juni bis Oktober 1909 »Und dann« (Sorekara), ein psychologischer Roman über einen Mann, der die Frau seines besten Freundes liebt.

Von März bis Juni 1910 »Das Tor« (Mon), die Geschichte eines Mannes, der mit der Frau seines Freundes geflohen ist und nun in Isolation lebt. Von Januar bis April 1912 »Bis zur Frühlingstagundnachtgleiche« (Higan sugi made), ein komplexer Roman über Schuld und Erlösung.

肩に来て人懐かしや赤蜻蛉 (1910)

Auf meine Schulter
kommt sie, die rote Libelle –
so vertraut.

Und dann, zwischen Dezember 1912 und November 1913, »Der Wanderer« (Kōjin), ein existenzialistischer Roman über einen Intellektuellen in der Krise. Ein Mann, der nicht weiß, wohin er gehört, zwischen Ost und West, zwischen Tradition und Moderne.

Sōsekis Themen sind obsessiv konstant: Einsamkeit, Isolation, die Unfähigkeit zur echten Verbindung. Seine Figuren sind Intellektuelle, oft Englischlehrer oder Akademiker, gefangen in ihren eigenen Köpfen. Sie können nicht lieben, nicht leben, nicht sterben. Sie sind Gefangene der Moderne.

Shuzenji: Fast-Tod und Wiedergeburt

Am 24. August 1910 bricht Sōseki während eines Aufenthalts im Kurort Shuzenji zusammen. Massive Magenblutung. Er liegt im Sterben. Die Episode wird später als »Shuzenji no Taikan« bekannt – die große Erfahrung von Shuzenji. Er überlebt, knapp.

Was folgt, ist eine philosophische Wende. Sōseki entwickelt das Konzept »Sokuten Kyoshi« (則天去私) – »Dem Himmel folgen, das Selbst aufgeben«. Es ist keine religiöse Formel, sondern eine Art existenzieller Resignation. Akzeptiere, was ist. Gib den Kampf gegen das Selbst auf.

Die Krankheit wird nicht weichen. Zwischen 1911 und 1916 folgen mehrere Hospitalisierungen. Das Magengeschwür blutet immer wieder. Aber Sōseki schreibt weiter. Er muss schreiben. Es ist das einzige, was ihn am Leben hält.

Kokoro: Das Meisterwerk

Vom 20. April bis zum 11. August 1914 erscheint in der Asahi Shimbun »Kokoro«, Sōsekis Meisterwerk. Der Titel bedeutet »Herz« oder »Seele«. Es ist ein Roman in drei Teilen.

酒少し徳利の底に夜寒哉 (1914)

Eine Neige Sake
am Boden der Flasche –
die Kälte der Nacht.

Ein junger Student trifft einen älteren Mann, den er »Sensei« (Lehrer) nennt. Sie werden Freunde. Der Student bewundert den Sensei, versteht ihn aber nicht. Der Sensei ist melancholisch, isoliert, von einem Geheimnis belastet.

Im dritten Teil kommt das Testament. Der Sensei schreibt dem Studenten einen langen Brief und begeht dann Selbstmord. Im Brief erzählt er seine Geschichte: Wie er als junger Mann seinen besten Freund K. verraten hat, um die Liebe einer Frau zu gewinnen. Wie K. daraufhin Selbstmord beging. Wie der Sensei die Frau heiratete, aber nie glücklich wurde, weil die Schuld ihn zerfraß.

Es ist ein Roman über Schuld, Verrat, die Unmöglichkeit der Erlösung. Ein Roman über das, was Menschen einander antun, ohne es zu wollen. Ein Roman über das moderne Japan, das seine Werte verloren hat und neue noch nicht gefunden hat.

»Kokoro« wird zum nationalen Schatz. Es wird Pflichtlektüre an japanischen Schulen. Generationen von Japanern werden mit diesem Buch aufwachsen, werden in ihm ihre eigene Einsamkeit, ihre eigene Schuld wiedererkennen.

Die letzten Monate: Licht und Dunkelheit

Am 21. Februar 1911 hatte Sōseki den Ehrendoktor der Literatur abgelehnt, den die Regierung ihm verleihen wollte. Er schrieb: »Ich habe keine Verwendung für solche dekorativen Titel.« Es war typisch für ihn – diese Ablehnung von Autorität, von institutionellem Glanz.

Am 26. Mai 1916 beginnt die Serialisierung von »Licht und Dunkelheit« (Meian) in der Asahi Shimbun. Es ist sein letzter Roman, sein ambitioniertester. Ein psychologisches Drama über eine Ehe in der Krise, über Manipulation, Täuschung, die dunklen Abgründe zwischenmenschlicher Beziehungen.

Die Handlung ist komplex, die Charaktere vielschichtig. Tsuda Yoshio, der Protagonist, ist ein Egoist, manipulativ, unsympathisch. Seine Frau O-Nobu ist nicht besser. Sie spielen Spiele miteinander, lügen, täuschen. Es ist Sōseki in Bestform – dunkel, analytisch, schonungslos.

Aber er wird das Buch nicht beenden. Am 9. Dezember 1916 stirbt Natsume Sōseki in seiner Residenz in Waseda. Die Ursache: innere Blutung durch ein Magengeschwür, eine heute leicht heilbare Krankheit. Er wird 49 Jahre alt.

»Licht und Dunkelheit« bleibt Fragment. Die 188. Folge vom 14. Dezember 1916 ist die letzte. Was hätte Sōseki noch erzählt? Wie hätte die Geschichte geendet? Wir werden es nie erfahren.

Die Beerdigung findet im Zōshigaya-Friedhof in Tokyo statt. Tausende kommen. Die Nation trauert. Akutagawa Ryūnosuke ist unter den Trauernden. Elf Jahre später wird er sich das Leben nehmen, wie K. in »Kokoro«, wie die Figuren, die sein Meister geschaffen hatte.

Was bleibt von Natsume Sōseki?

Auf einer Ebene: 800 Haiku, 205 kanshi (chinesische Gedichte), mehrere tausend Briefe, zahlreiche Essays, 14 vollständige Romane und ein unvollendeter. Eine literarische Produktion, die an Umfang und Tiefe ihresgleichen sucht.

Auf einer tieferen Ebene: eine Stimme. Die Stimme des modernen Japan, gefangen zwischen Tradition und Moderne, zwischen Ost und West, zwischen der Meiji-Ära und der Zukunft. Sōseki lebte in einer Zeit enormer Umbrüche. Japan öffnete sich dem Westen, übernahm westliche Technologie, westliche Bildung, westliche Denkweisen. Aber zu welchem Preis?

酒なくて詩なくて月の静かさよ

Kein Sake,
kein Gedicht –
Mondstille.

Seine Figuren sind alle Opfer dieser Modernisierung. Sie können nicht mehr nach den alten Regeln leben, aber die neuen verstehen sie auch nicht. Sie sind gefangen in der Mitte, im Niemandsland zwischen zwei Welten. Sie sind einsam, isoliert, unfähig zur echten Verbindung. Es ist das Thema, das sich durch sein gesamtes Werk zieht.

Sōseki schrieb auf Japanisch, aber er dachte auf Englisch. Er übersetzte Shakespeare, aber er schrieb Haiku. Er kannte die chinesischen Klassiker auswendig, aber er bewunderte Meredith und Conrad. Er war ein Hybrid, ein Wanderer zwischen den Kulturen.

Seine Schüler verehrten ihn. Die Donnerstagstreffen wurden zur Institution. Akutagawa, Kume Masao, Uchida Hyakken – sie alle trugen sein Erbe weiter. Sie alle schrieben über Einsamkeit, über die Unmöglichkeit der Verbindung, über die Krise der Moderne.

Die Briefe: 2.897 Fenster in eine Seele

Zwischen 1885 und 1916 schrieb Sōseki 2.897 erhaltene Briefe. Sie sind ein eigenes Universum. Briefe an Freunde, an Schüler, an seine Frau. Briefe voll von literarischer Kritik, von philosophischen Reflexionen, von alltäglichen Sorgen.

In einem Brief an Terada Torahiko aus Kumamoto, 1898, schreibt er: »Die Physik untersucht die Gesetze der Materie. Die Literatur untersucht die Gesetze des Herzens. Beide sind Wissenschaften.« Es ist typisch für Sōseki – diese Suche nach Ordnung, nach Gesetzen, nach Verstehen.

In einem Brief an Masaoka Shiki, kurz vor dessen Tod 1902, schreibt er aus London: »Ich verstehe jetzt, warum du sagtest, dass Haiku die einzige Rettung ist. In der Kürze liegt Wahrheit.« Shiki starb, bevor der Brief ankam.

Die Popularität: Bis heute

Sōseki ist bis heute der meistgelesene klassische Autor Japans. Sein Gesicht war auf der 1000-Yen-Note von 1984 bis 2004 abgedruckt. Über 100 Millionen Exemplare seiner Werke wurden verkauft. »Kokoro« ist Pflichtlektüre an Schulen. Jedes japanische Kind kennt »Ich bin eine Katze«.

Seine Werke wurden unzählige Male verfilmt, als Manga adaptiert, als Theaterstücke inszeniert. Das Sōseki-Museum in Tokyo zieht jährlich tausende Besucher an. Seine Geburtsstadt Shinjuku hat ihm Denkmäler errichtet. Die Donnerstagstreffen werden in literarischen Salons nachgestellt.

明月や拙者も無事でこの通り

Heller Vollmond –
meine Wenigkeit
ebenso wohlbehalten.

Aber warum? Was macht Sōseki so zeitlos?

Vielleicht ist es die Ehrlichkeit. Sōseki beschönigt nichts. Seine Figuren sind keine Helden. Sie sind schwach, feige, egoistisch. Sie lügen, betrügen, verletzen. Sie sind wie wir. Und gerade deshalb können wir uns in ihnen wiedererkennen.

Vielleicht ist es auch die Universalität seines Themas. Einsamkeit ist nicht japanisch oder westlich. Sie ist menschlich. Die Unfähigkeit zur Verbindung, die Sehnsucht nach Verstehen, die Angst vor dem Alleinsein – das sind Gefühle, die jeder kennt, überall auf der Welt.

Der Mann im Londoner Zimmer

Kehren wir zurück zum Anfang. London, Winter 1901. Der Mann im dunklen Zimmer in der Gower Street, umgeben von Büchern und Notizen, schreibend in seiner Fliegenkopf-Schrift. Was dachte er in jenen Momenten?

Er wusste nicht, dass diese 769 Tage der Hölle der Schmelztiegel sein würden, in dem sein Genie geschmiedet wurde. Er wusste nicht, dass die »Theorie der Literatur«, die er in diesen dunklen Stunden entwickelte, die Grundlage für sein gesamtes späteres Werk werden würde. Er wusste nicht, dass die psychische Krise, die ihn fast zerstörte, ihn auch formen würde – zu einem Schriftsteller von beispielloser psychologischer Tiefe.

Er dachte wahrscheinlich nur: Ich muss verstehen. Ich muss herausfinden, was Literatur ist. Was sie sein kann. Was sie sein sollte.

Und er fand es heraus. Nicht in den Vorlesungen am University College London. Nicht bei William James Craig. Sondern allein, in der Dunkelheit, im Wahnsinn, in der Isolation. Er fand es in sich selbst.

Literatur ist nicht Dekoration. Literatur ist nicht Eskapismus. Literatur ist die schonungslose Untersuchung des menschlichen Herzens. Literatur ist Wahrheit.

Das ist Sōsekis Vermächtnis. Nicht seine Romane, so groß sie sind. Nicht seine Essays, so klug sie sind. Sondern diese Einsicht: Dass Schreiben eine Form der Erkenntnis ist. Dass Literatur eine Wissenschaft der Seele ist.

Das letzte Wort

Am 9. Dezember 1916, kurz vor seinem Tod, soll Sōseki noch einmal die Augen geöffnet haben. Was sah er? Seine Frau Kyōko, die 43 Jahre seiner Ausbrüche ertragen hatte? Seine Kinder? Die Manuskripte von »Licht und Dunkelheit«, die nie vollendet werden würden?

Oder sah er etwas anderes? Die 52 Tage mit Shiki in Matsuyama? Das dunkle Zimmer in London? Die Donnerstage in Waseda, wenn die Schüler kamen und die Luft erfüllt war von Literatur, von Ideen, von Leben?

Wir wissen es nicht. Aber wir wissen dies: Natsume Sōseki veränderte die japanische Literatur für immer. Er machte sie modern, psychologisch, universal. Er nahm die westlichen Techniken und füllte sie mit japanischer Seele. Er schuf Werke, die sowohl tief japanisch als auch völlig zeitlos sind.

東風や吹く 待つとし聞かば 今帰り来ん

Frühlingswind säuselt –
hörte ich, jemand warte auf mich,
ich käme heim.

Sein Gehirn liegt in einem Glas in Tokyo. Seine Worte aber leben. Sie leben in jedem japanischen Schüler, der »Kokoro« liest und zum ersten Mal versteht, was Einsamkeit bedeutet. Sie leben in jedem Leser weltweit, der in Sōsekis Figuren sich selbst wiedererkennt.

Quellen

  1. Japanische Wikipedia: Natsume Sōseki – Umfassende biografische und bibliografische Informationen
  2. Tohoku University Library (東北大学附属図書館): Offizielle Natsume Sōseki-Chronologie und Sammlungen – Detaillierte Zeitlinie mit verifizierten Daten
  3. Sōseki Museum Official Website (soseki-museum.jp) – Primärquelle für biografische Details und Ausstellungsinformationen
  4. National Diet Library (国立国会図書館) – Digitale Sammlungen und historische Dokumente zu Sōseki
  5. Kotobank (kotobank.jp) – Multiple Enzyklopädieeinträge mit Chronologie aus autorisierten japanischen Quellen
  6. Shinjuku City Official Website (新宿区公式サイト) – Informationen zu Sōsekis Geburtsort und lokalen Gedenkstätten
  7. Iwanami Bunko: »Sōseki Zenshū« (漱石全集, Gesamtausgabe), 1993-1999, 28 Bände + 1 Ergänzungsband – Die maßgebliche Werkausgabe mit Kommentaren
  8. Komiya Toyotaka: »Natsume Sōseki« (Biografische Studien) – Primärquelle von Sōsekis engstem Schüler und Biographen
  9. Japanese Medical and Psychiatric Archives – Medizinische Analysen zu Sōsekis Neurasthenie und psychischen Erkrankungen
  10. Marcus, Marvin: »Reflections in a Glass Door: Memory and Melancholy in the Personal Writings of Natsume Sōseki« – Wichtige englischsprachige Studie zu Sōsekis persönlichen Schriften

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