
Ein Haiku ist ein winziges Gedicht, traditionell aus Japan – alt, echt und unverfälscht. Es braucht keine Erklärung, keine Interpretation. Was aber nicht heißt, dass man alles immer sofort versteht. Meist geht es um die Natur, die Jahreszeiten und uns in der fließenden Welt.
Haiku sind keine Zaubersprüche. Man muss schon selbst etwas tun. Aber sie arbeiten nicht mit kryptischen Metaphern oder literarischen Rätseln. Sie stellen den Leser nicht vor Aufgaben. Man braucht keine besondere Vorbildung und muss nicht literaturerfahren sein, um sie zu genießen. Haiku sind unmittelbar. Einfach da.
So ist die Welt:
Schmetterlinge –
und alles andere eben auch.
Nishiyama Soin (1605–1682)
Klassische Haiku vertreten keine Ideologie, was heutzutage angenehm ist. Sie sind nahezu zeitlos, pur und unverschnörkelt, handlichklein, unanstrengend, nicht intellektuell, schon gar nicht verquast. Sie beobachten, verwenden einfache Wörter und bleiben meist höflich und positiv. Ausnahmen gibt es natürlich auch.
Ein Haiku zu lesen, das ist manchmal wie eine Dosis Klarheit verabreicht zu bekommen. Drei Zeilen nur. Aber sie wirken – wie ein Tropfen eines alten Mittels, direkt aus der Quelle geschöpft.
Haiku singen nicht, wie westliche Lyrik es oft (und so schön) tut. Sie sind eher Bilder, kleine Momente, die man sich vor Augen führt. Doch Poesie sind sie trotzdem. Oder gerade deshalb …
Blaue Frühlingsbrise –
eine müde Wolke
hängt herab.
Kobayashi Issa (1763–1828)

Als Dreizeiler sind Haiku so klein, dass sie fast überall Platz finden – und so alt, dass sie oft heute erst richtig wirken. Zur Zeit ihrer Entstehung war an eine Massenverbreitung nicht zu denken. So mancher Haikuist würde sich wundern, was heute seinen Versen geschieht.
Haiku sind Naturgedichte. Sie orientieren sich an den Jahreszeiten, an der Welt, die uns umgibt. Manche Haiku sind ruhig, andere nicht. Manche haben Humor, auch derben; manche beschäftigen sich mit Tod und Vergänglichkeit. Zen und Buddha haben auch Pausen. Der Alltag damals war voller Hitze, Mücken, Hunger, Durst, löchriger Schuhe – ganz ähnlich wie heute. Trotzdem bleiben Haiku meist höflich und zurückhaltend. Sehr japanisch eben.
Haiku lesen und nutzen
Haiku können entspannen, Mut machen, beim Einschlafen helfen, die Achtsamkeit schulen, Spaß machen, Trost spenden, Erinnerungen wecken, den Blick für das Schöne schärfen, kleine Wunder sichtbar machen und uns für einen Moment mit der Welt versöhnen. Sie können helfen, Gedanken zur Ruhe zu bringen, Wartezeiten leichter zu überstehen, die Konzentration in stressigen Phasen zu fördern, neue Impulse für Tagebuch oder Kreativität zu geben, das Kopfkino bei Sorgen zu unterbrechen, Gesprächsanlässe schaffen, das Handy bewusst für einen Moment aus der Hand zu legen, Rituale für den Tagesbeginn oder den Abend einzuführen, Pausen sinnvoll zu füllen, die Aufmerksamkeit auf positive Erlebnisse zu lenken und durch kurze Atempausen die seelische Widerstandskraft zu stärken.
Gar nicht mal so wenig, oder? Und da geht noch viel mehr. Haiku sind nur ein paar Buchstaben, drei Zeilen, mehr haben sie nicht – und doch stecken Welten drin. Sie sind kleine Schätze. Und so sollte man auch mit ihnen umgehen. Wenn du auf eines triffst, dann sei dir des Moments bewusst.
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Du musst keine Vorbereitungen treffen. Du brauchst auch nur wenig Zeit. Es ist nicht erforderlich, sich irgendwie meditativ auf das Leseerlebnis einzustellen. Das ist alles Unsinn. Ein Haiku kannst du in der U-Bahn oder in der Warteschlange an der Supermarktkasse lesen. Das erfordert bestenfalls Übung – und man muss vorbereitet sein, seine Haiku schon zur Hand haben. Egal ob auf einem Zettel oder im Handy. Es geht alles.
hinter dem Morgenblumenzaun
nimmt jemand ein Bad –
Sommerfrische!
Masaoka Shiki (1867–1902)
Einfach machen. Dann konzentriere dich. Lass dich vom Haiku mitnehmen in eine andere Welt. Die mag zwar erst einmal weit weg scheinen, zeitlich und räumlich, dennoch ist es deine Welt. Es ist dieselbe Welt. Es gibt nur diese eine. Die Welt ist die Welt. So ist es eben. Und so war es auch immer.
Was früher mal war, ist nicht weg, sondern Teil von uns. Wir sind sozusagen daraus gemacht. Und ein bisschen davon kann man im Haiku wiederfinden.
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Werkstattbericht
Die Grafiken wurden von DALL-E und dem Microsoft Designer via Bing generiert.
Wie ich übersetze
Die Übersetzungen stammen von Lenny Löwenstern. Jede Zeile wurde sorgsam bearbeitet – nicht automatisch, sondern mit modernen Werkzeugen. Ziel war, das Wesen der japanischen Originale zu bewahren – in einer Sprache, die heute berührt.